Die Nacht und das Ich

Ich trat hinaus in den düsteren Geruch der späten Stunden, die schon wieder anfingen frühe Stunden zu werden. Eine milde Kälte zog durch die Straßen; ich schloss mich ihr an. Die Konturen der Häuser hoben sich schwarz ab gegen das Schwarz des Himmels. Feuchtigkeit stieg vom Boden auf und benetzte Autoscheiben und Grashalme. Unter der Laterne im Lichtkegel, der sich durch die Nacht kämpfte und Mücken und Fliegen anlockte, die in seinem Schein ihren Tanz aufführten, ohne Leichtigkeit, obwohl sie flogen und fliegen doch etwas Leichtes sei, dachte ich zumindest und ich wäre gerne mitgeflogen; in diesem Lichtkegel also stand niemand. Ich zog weiter meines Weges, flog weiter weg vom Licht, floh tiefer ins Dunkel. Auch an der Straßenecke, auf die ich zuschritt, wartete niemand. Alles war entschlafen, der Hektik des Repetitiven entrückt und negierte das Drängen der Zeit und ihre diktatorische Herrschaft. Konzentriert, andächtig, träge, still. Ich lauschte, breitete die Arme aus und atmete die Agonie, die nicht die meinige war. Sie gehörte nicht zu mir, aber ich konnte sie mir einverleiben.

Alles hier draußen gehörte mir, wenn ich wollte, wenn ich es mir einverleibte, es seiner Selbstbestimmung entriss und mir unterjochte. Das waren jetzt meine Straßen, die für den Weg gebaut waren, den ich gehen wollte. Meine Laternen, die für mich den Weg beleuchteten. Meine Bäume und Sträucher, meine Litfaßsäule, meine Mülleimer. Nachts existierte die Welt nur für den, der sich ihrer annahm, so wie ich es tat.

Morgens erwarten alle immer, die Welt so wieder aufzufinden, wie sie sie am Abend zuvor verlassen hatten. Eine pinke Litfaßsäule hingegen erwartet niemand. Wenn ich wollte, könnte ich die Litfaßsäulen pink streichen oder grün oder sie einfach von ihren Plakaten befreien. Wobei Pink wohl doch nicht geht, sonst würden alle vermuten, dass es doch kein Pink ist, sondern Magenta und dass die Litfaßsäule für Internetwerbung herhalten muss oder Werbung fürs Telefonieren mit großem „T“ in Magenta. Noch mehr Werbung brauchte tatsächlich niemand. Eher weniger. Ich durfte die Säule also nicht in Pink anstreichen. Oder sie, die morgendlichen Menschen morgen, hielten die anstößige Farbigkeit der Litfaßsäule für eine politische Kampagne, jetzt, wo Pink eine politische Bedeutung hatte, wo versucht wurde mit Pink politische Karriere zu machen. Ein politisches Pink. Diese Wörter gehen so schwer von den Lippen. Jedesmal bin ich versucht das „I“ zu verschlucken und durch ein „U“ auszutauschen, um doch noch eine sinnhafte Phrase zu erschaffen.

Wenn man morgens mit dem Bus die tägliche Strecke abfährt, entdeckt man, dass sich etwas verändert hat, dass jemand unterwegs gewesen war, während alle schliefen. Man fährt an der Litfaßsäule vorbei und sie springt einem ins Auge mit ihren grellen Farbton, blendend, grell, empörend, anstößig, den guten Geschmack beleidigend, diese magentafarbene Litfaßsäule, dieser fleischfarbene Phallus.

Die Nacht hat immer etwas postapokalyptisches, anarchistisches, wie sie allem ein Schweigen aufzwingt und mich alleine in der Welt lässt. Die Straße mit ihren Häusern, Wänden, Autos, Bäumen, Flächen, erdrückt von nächtlichem Grau, Blau, Schwarz, dunkel, gleichgültig, lethargisch wurde jetzt zu meiner Spielwiese.

Ich hatte mir eine schwarze Hose angezogen, einen schwarzen Kapuzenpullover und eine alte, schwarze Jacke, schwarze Schuhe. Das erleichterte mir das Eintauchen in die Schatten, die jetzt regierten. Mitten auf der Kreuzung wurde ich noch von den Laternen und Ampellichter bestrahlt, doch schon ein paar Schritte weiter verschwammen die Konturen und ich konnte mich in den Fluss der dunklen Farbtöne einreihen und treiben lassen, umspülen lassen, mich fortschwemmen lassen.

Bedächtig beobachteten die kahlen, anonymen Hauswände meine Schritte, verfolgten konzentriert, was ich tat und zu tun gedachte, wie ich ein Bein vors andere setzte, über Pfützen und Kanalisationsdeckel stieg und jetzt enge Gassen und kleine Wege bevorzugte. Hier war ich geschützt und alleine. Selbst die wachen Augen der Gebäude konnten mich hier nicht erreichen. Meine Schritte hallten durch die Gassen, leise, gedämpft, begleitet von dem Rasseln und Klackern in meinem Rucksack.

Gestern war ich hier noch mit dem Bus langgefahren und hatte mir alles genau angeguckt. Die Litfaßsäule, plakatiert mit Werbung für dieses eine Produkt, das ich unbedingt brauchte, die Umgebung, die Häuser, die Wege, die mich zur Litfaßsäule führten und welche Wege ich später wieder zurück nach Hause nehmen konnte. Ich hatte keine Angst, dass mir etwas passieren konnte in den dunklen kleinen Gassen, auf den Feldwegen und den Trampelpfaden durch den Wald. Nachts sind die Verbrecher unterwegs. Ich war jetzt einer von ihnen.

Ich zog mir die Bank, die in der Nähe stand zur Litfaßsäule. Wenn ich die Bank auf die Seite stellte und sie gegen die Säule lehnte, konnte ich mich auf die Beine stellen und so bis oben an die Säule heranreichen.

Ich öffnete den Rucksack, fühlte im Inneren nach den Handschuhen, zog sie heraus und über meine Hände. Ich suchte mir den Mundschutz, setzte die Kapuze ab, zog den Mundschutz über meinen Kopf und setzte die Kapuze wieder auf. Die Dosen lagen auf dem Boden des Rucksacks, ich zog aus meine Hosentasche ein fat-cap, zog den Deckel von der Dose, setzte das frische fat-cap auf die Dose und sprühte kurz in die Luft. Im Inneren der Dose klackerte die Metallkugel hin und her. Das Geräusch schnitt durch die Stille wie ein Blitz durch die Nacht. Beim nächsten Mal würde ich mir einen Magneten besorgen, welcher die Kugel am Boden der Dose hielt, so dass sie keine Geräusche mehr verursachen würde. Ich schaute mich um. Die Straßen waren verlassen. Ich war alleine mit der Litfaßsäule und der Dose in meiner von einem Handschuh geschützten Hand.

Allmählich wurde der Säule bewusst, dass ihr eine neue Farbe zuteilwurde. Die Partikel spritzten aus der Dose, schossen auf die Wand, Dämpfe verbreiteten sich, der Geruch des Lacks umgab mich. Nach zweimaligem Umsetzen der Bank war die obere Hälfte der Säule hinter einer neuen, glänzenden Farbschicht verschwunden. Zwischendurch hatte ich immer wieder kontrolliert, ob jemand auf den Straßen unterwegs war. Keine Autos, keine Fußgänger, keine Polizei.

Die Säule war vollständig mit Lack geschmückt. Ich packte die Dosen, Handschuhe und den Mundschutz in meinen Rucksack und verschwand hinter einer Häuserecke in der Dunkelheit.

Dies war nicht mehr länger meine Nacht. Ich war zu einem Teil von ihr geworden. Wir teilten das Geheimnis der Säule. Die Frische des Windes war belebend, durchströmte meine Atemwege, die Kälte zog in meinen von Adrenalin befallenen Körper ein. Der Tau setzte sich langsam auf die Gräser, erste Lichter gingen in den Fenstern an. Ich zog die Kapuze von meinem Kopf, senkte den Blick und schlenderte meinem Ziel entgegen. Ich stürzte mich in den Rachen der Anonymität des Alltags und ließ mich verschlucken. Die Individualität des Augenblicks war verflogen.

Irgendwo stand eine Litfaßsäule in der Nacht und schwitzte Lackdämpfe aus. Am Morgen würden Busse vorbeifahren und verschlafene Menschen auf ihrem alltäglichen Weg transportieren. Dann würde ein grelles Pink ihre Netzhäute penetrieren. Wenn man die Beine eines „U“s sehr nah aneinander schreibt und einen einzelnen Punkt hierüber setzt, kommt es einem „i“ schon sehr nahe.

So konnten die überraschten Morgenmenschen des nächsten Morgens in nachtschwarzen Lettern auf einer knalligen pinken Litfaßsäule lesen: „Punk is not dead.“ Und knapp darunter: „Aber die FDP.“

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