Menschwerdung im Alter

Nicht mehr länger werden ältere Menschen stärker von Krankheiten geplagt, die ihnen das Leben erschweren und sogar Lebensqualität nehmen. Es ist nicht länger so, dass die Krankheiten mit dem Alter einhergehen. Das Alter ist längst selber zur Krankheit geworden. Wir sind krank – kollektiv und chronisch.

Glücklicherweise scheinen wenigstens Männer dieser Krankheit etwas entgegenhalten zu können. Kathrin Zinkant verfasste für die Süddeutsche Zeitung einen Bericht, in dem sie darstellt, dass es Männern im Alter am Sexualhormon Testosteron mangelt, wobei „die Menge des Hormons bei allen alternden Männern auf natürliche Weise“ sinke (Zinkant, „Was die Testosteron-Therapie anrichten kann“, SZ, 13.08.2015) und dass es Entwicklungen in den USA und Deutschland gebe, diesem Mangel durch die Zufuhr dieses Hormons entgegenzuwirken. Diese Testosteronzufuhr erfolgt, obwohl, wie Zinkant schildert, nur bei „drei bis fünf Prozent […] der Verlust für Symptome wie Müdigkeit und Männlichkeitsverlust“ zu verantworten ist und man so auf die Idee kommen könnte, dass ein erhöhter Testosteronwert diese Symptome beseitigen könne.

Zinkant nennt eine Studie, die die Auswirkungen einer Zugabe von Testosteron auf Männer ab 60 untersucht. Deren Ergebnis sei unter anderem, „dass sich auch die Lust- und Potenzprobleme der Männer durch das Testosteron nicht verringern ließen“ und Testosteron auch keine Lösung für „altersbedingte Probleme mit dem Samenerguss“ böte.

Die Darstellung alleine demaskiert ein Denken, das gefühlt in der Gesellschaft en vogue ist und versucht dem natürlichen Absinken des Testosterons als Ursache der Probleme den Rang abzulaufen.

Die Prämissen sind allseits bekannt und akzeptiert: Erstens lassen sich sexuelle Handlungen auch ohne Fortpflanzungsintention vollziehen. Zweitens ist ein wichtiger Aspekt des Bildes der Männlichkeit die Potenz. Das Bestreben, der Potenz auch im Alter nachzuhelfen, drängt der Omnipotenz eine neue Bedeutung auf. Auch im Alter hat der Körper des Mannes störungsfrei zu funktionieren. Es darf also keine „Probleme“ bei Lust, Potenz oder Samenerguss geben, wie Zinkant dies audrückt. Anders formuliert: Selbst im Alter hat der Mann zu wollen und zu können. Und die dritte Prämisse lässt sich so verstehen, dass die Jugend dem Alter überlegen ist.

Vor allem das dargestellte Bild der Männlichkeit ist omnipräsent. „Männer […] werden als Kind schon auf Mann geeicht“[1], so dass dieses Bild jedem Knaben eingeprügelt wird mit dem Resultat: „Ein Mann fühlt sich erst dann als Mann, wenn er es dir besorgen kann.“[2]

Das führt dazu, dass ein Mann, der im Alter nicht die geforderte Potenz aufweist, dem Bild der Männlichkeit nicht entspricht. Substitutionen zur Verbesserung des Testosteronspiegels als erhoffte Potenzsteigerung sind die Folge.

Heutzutage werden wir so alt, dass wir das fortpflanzungsrelevante Alter weit überschreiten können. Unsere Natur versucht uns das zu vermitteln, indem Fortpflanzung im Alter erschwert wird oder die Wahrscheinlichkeit eines gesunden Kindes als Folge der Fortpflanzung sinkt. Was unsere Natur uns zu sagen versucht, ist nichts anderes als: Lass es sein!

Nun haben wir es aber geschafft, Sex nicht in jedem Fall als Fortpflanzungsakt zu sehen, sondern auch als Hobby, Spaß und – der entscheidende Aspekt – als Maßstab für Männlichkeit. Die Folgen unseres Alters kollidieren also immens mit unseren Vorstellungen eines Mannes. Aufgrund lebenslanger Indoktrination dieses Ideals kommen wir zu dem Schluss, dass das Alter nichts Natürliches ist und blenden aus, dass es vielleicht sogar biologisch und evolutionär seine Bedeutung haben könnte. Stattdessen ist das Alter eine Krankheit, die wir besiegen müssen, damit wir weiter Männer sein können. Statt zu überlegen, was einen Mann außer einer pulsierenden Erektion ausmachen könnte, überlegen wir lieber, wie wir diese Erektion auf Jahrzehnte am Pulsieren halten.

Die logische Konsequenz unseres Alters ist es nicht unsere Vorstellungen von Männlichkeit zu überarbeiten, so dass sie auch ältere, potenzschwächere Männer integriert, beziehungsweise Konzepte von Geschlechtsspezifika einfach abzuschaffen. Wenn wir einem Bild aufgrund unserer Natur nicht entsprechen, ist nicht das Bild falsch, sondern wir sind die Kranken.

Wenn das Selbstverständnis des Mannes vom Bild der Männlichkeit, das in der Gesellschaft vorherrschend ist, beeinflusst wird und für dieses Bild der Maßstab der Potenz essentiell ist, bekommen wir als immer älter werdende Gesellschaft ein Problem, das nichts mit Potenz- oder Samenergussproblemen zu tun hat. Ein Großteil der Gesellschaft befindet sich dann in einem permanenten Widerstreit mit dem tatsächlichen Selbst und den hieran gestellten Ansprüchen. Ebenso ist es fatal in einer immer älter werdenden Gesellschaft das Alter als Krankheit zu verstehen. Aber vielleicht brauchen wir auch einfach nur neue Begriffe für ältere, also kranke Menschen männlichen Geschlechts mit Erektionsstörung.

Zinkant jedenfalls stellt zwar dar, dass die Testosteronzufuhr für die von ihr aufgelisteten Probleme keine Lösung bietet. Sie kann aber auch keine Lösung finden, weil sie zu dem tatsächlichen Problem nicht durchdringt. Ihr Fazit: „Die Angst davor, nicht nur alt zu werden, sondern sich auch alt zu fühlen, bleibt. Und tatsächlich wäre es zu schön, wenn ein Pflaster dagegen helfen würde.“

Pflaster verdecken aber Wunden nur. Tatsächlich wäre es schön, wenn wir uns mit den Wunden selber und nicht mit ihrer Kaschierung beschäftigen würden.

Vielleicht gibt es ja die Möglichkeit auch ohne Ständer ein Mann zu sein. Und vielleicht ist das Alter ja doch keine Krankheit, sondern gehört mit all seinen Wehwehchen zu einer medizinisch hochentwickelten Gesellschaft einfach dazu.

Und vielleicht, aber nur vielleicht, kann es ja zur Abwechslung im Alter auch einfach mal angenehm sein, dass man/Mann nach all den Jahren, in denen man im Job ständig 120 Prozent gegeben hat, nicht mehr funktionieren muss. Man darf endlich kaputt sein – das ist der Vorteil des Alters. Man kann das maschinelle Funktionieren hinter sich lassen und einfach Mensch sein. Schade nur, dass man gerade in einem Bereich kaputt ist, der doch so viel Spaß machen kann. Aber vielleicht hat man all die Zeit auch einfach nur die Prioritäten des Funktionierens falsch gesetzt.

[1] Herbert Grönemeyer: Männer

[2] Die Ärzte: Ein Schwein namens Männer

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