Geheimnisverrat – Verrat des Geheimnisses

Jede Herrschaftsform – ob Diktatur, Demokratie, Monarchie – und jede aktuelle Herrschaft basieren auf einem gemeinsamen Prinzip: Dem Erzählen einer Geschichte. Jeder Herrscher erzählt seiner Bevölkerung eine gewisse Geschichte; man könnte dies auch als eine Interpretation der Realität verstehen.

Diese Geschichte hat zwei Aspekte und hiermit verbundene Funktionen: Erstens erzählt sie dem Volk, was seine Interessen sind oder sein könnten und wie diese umzusetzen sind. Zweitens legitimiert die Geschichte die Herrschaft.

In einer Demokratie variiert der Anteil der Funktionen je nach der Phase, in der die Demokratie sich befindet. Diese Phasen sind: Wahlkampf, Machtübernahme, Machterhalt. Die Machtübernahme ist aus der Perspektive des Volkes die Wahl und somit der einzige Punkt, den das Volk steuert.

Der Wahlkampf ist darauf ausgelegt, das Volk von der Geschichte, die der Herrschaftsanwärter erzählt, zu überzeugen. Es muss der Geschichte Glauben schenken, damit dieses bei der Wahl diese Geschichte wählt und somit die Machtübernahme ermöglicht. Dies kann dadurch geschehen, dass der Kandidat dem Volk die beste Geschichte erzählt oder indem der Kandidat der beste Geschichtenerzähler ist.

Die Geschichte vermittelt dem Volk, welche Interessen es hat. Die Erzählung erweckt beim Volk den Glauben, dass der Kandidat sich nach der Wahl für diese Interessen, also die dem Volk vermittelten Interessen des Volkes, einsetzt, also im Interesse des Volkes handelt.

Die Phase der Machtübernahme legitimiert die Herrschaft durch die Wahl.

In der Phase des Machterhalts, also nach der Wahl, muss der Herrscher unabhängig davon, ob er die Interessen des Volkes vertritt oder nicht, diesem zumindest die Geschichte inhaltlich oder rhetorisch so erzählen, dass es noch weiterhin davon überzeugt ist, dass er im Volksinteresse handelt. Die Opposition hingegen erzählt eine andere Geschichte, die darauf abzielt dem Volk zu vermitteln, dass nicht in seinen Interessen gehandelt wird.

Der Herrscher bietet dem Volk also eine Interpretation der Realität an, die seine Handlungen in ein günstiges Licht rückt, beziehungsweise Handlungen, die dem Anschein der Interessenvertretung zuwider laufen, im Schatten lässt.

An dieser Stelle kommen geleakte Dokumente sowie Informationen und deren Veröffentlichung ins Spiel.

Zunächst sind Institutionen beziehungsweise die Herrscher der Auffassung, dass bestimmte Informationen nur einem kleinen Personenkreis zugänglich sein sollten und deswegen also geheim bleiben sollen. Diese Informationen können trotzdem durchsickern, indem Insider Kopien anfertigen. Wenn diese Informationen nun bei der Presse landen, kommen Fragen bezüglich des Umgangs mit diesen Informationen auf. Die Debatte ist geprägt von Begriffen wie „Pressefreiheit[1], „Staatsgeheimnisse[2], dem „Recht der Öffentlichkeit auf Information“[3] und Fragen danach, „was wir [die Medien] dürfen, was wir müssen“[4], also einer Medienethik.

Abgewogen werden müssen hierbei zum einen die Relevanz der Information sowie die Folgen der Veröffentlichung. Die Namen von Terroristen irgendwo in Mittelasien sind für die Gesellschaft vollkommen wertlos und brauchen daher nicht veröffentlicht zu werden. Das Vorgehen von Soldaten im Kampf gegen diese Terroristen hingegen kann von Interesse sein, da die Gesellschaft hieran die Geschichte der Herrscher in Bezug auf Werte und Integrität überprüfen kann. Mascolo plädiert: „Vor allem wenn es um Leib und Leben geht, ist Zurückhaltung Pflicht.“ Informationen bezüglich eines militärischen Einsatzes wären also so lange zurückzuhalten, bis dieser Einsatz abgeschlossen ist und die Soldaten durch die Veröffentlichung nicht in Gefahr gebracht würden.

In eine ähnliche Richtung zielend geht auch folgende Argumentation: „Nach einem Bericht des Spiegel hat Maaßen Abgeordneten des Bundestages gedroht: Eines Tages könnten die Amerikaner wegen der vielen Durchstechereien aus dem Bundestag an Journalisten die Zusammenarbeit mit den deutschen Geheimdiensten einschränken. Komme es dann zu einem Anschlag in Deutschland, seien die Parlamentarier schuld.“[5] Rhetorisch gewagt, argumentativ schwierig. Käme es zu einem Anschlag, wären die Attentäter schuld, nicht die Parlamentarier. Die Frage ist, inwiefern man für das Verhalten anderer Leute aufgrund eigener Handlungen verantwortlich gemacht werden kann. Wenn also Informationen veröffentlich werden und jemand das zum Anlass nimmt, um radikale Schritte einzuleiten, ist fragwürdig, ob das noch in die Verantwortungssphäre des Publizisten fällt.

Ein ungleich wichtigerer Aspekt der Medienethik ist die Funktion der Informationsveröffentlichung. Pressefreiheit und das Recht der Öffentlichkeit auf Information greifen an dieser Stelle zu kurz. Sie sind vielmehr die erste Ableitung eines viel grundlegenderen Prinzips: Eine demokratische Gesellschaft kann Wahlen nur dann gewissenhaft durchführen, wenn ihr alle relevanten Informationen zu Verfügung gestellt wurden.

In beiden erwähnten Artikeln klingt dies im Hintergrund an. Im einen Fall wird Pressefreiheit folgendermaßen definiert: „Die von den Medien ergriffene Freiheit, das Gemeinwesen über Angelegenheiten zu unterrichten, die es angehen, und seine Aufmerksamkeit darauf zu lenken, das wäre Pressefreiheit.“[6] Hierbei wird auch der Aspekt der Relevanz aufgegriffen. Mascolo hingegen erwähnt Diktatoren als diejenigen, die „Gesetze zum Schutz von Staatsgeheimnissen“ liebten.[7]

Unter Rückgriff auf Aleida Assmanns „Erinnerungsräume“ und das hiermit verbundene Verständnis des kulturellen Gedächtnisses, aufgeteilt in Funktions- und Speichergedächtnis, lässt sich die Argumentation des demokratischen Prinzips stützen.

Assmann schreibt dem Funktionsgedächtnis zu, dass mit ihm „ein politischer Anspruch verbunden [ist] bzw. […] eine distinkte Identität profiliert [wird]“ und dass das Speichergedächtnis „den Gegenpart zu diesen verschiedenen Perspektivierungen des kulturellen Gedächtnisses [bildet]“[8].

Die Perspektivierungen des Funktionsgedächtnisses können so verstanden werden, dass bestimmte Aspekte aus der Historie herausgestellt und interpretiert werden und somit im Funktionsgedächtnis präsent sind. Alles andere ist im Speichergedächtnis potentiell abrufbar, „von dem aus die verengten Perspektiven auf die Vergangenheit relativiert, und nicht zuletzt: verändert werden können“[9]. Die Geschichte kann also anders erzählt werden.

Das Funktionsgedächtnis mit seinen „Gebrauchsformen[…]: Legitimation, Delegitimation und Distinktion“[10] kann auf das Speichergedächtnis, das „Reservoir zukünftiger Funktionsgedächtnisse“[11], zurückgreifen. „Legitimation ist das vordringliche Anliegen des offiziellen oder politischen Gedächtnisses. Die für diesen Fall charakteristische Allianz zwischen Herrschaft und Gedächtnis äußert sich positiv in der Entstehung elaborierterer Formen geschichtlichen Wissens, vorzugsweise in der Form der Genealogie, denn Herrschaft braucht Herkunft.“[12]

Herrschaft wird durch das Funktionsgedächtnis legitimiert, indem bestimmte Aspekte des Speichergedächtnisses fokussiert und Formen gefunden werden, diese Aspekte präsent zu halten.

Die politische Macht, welche sich durch eine gewisse Auswahl legitimiert, erschafft gleichzeitig ihre Opposition[13]: „Das Motiv der Gegenerinnerung, deren Träger die Besiegten und Unterdrückten sind, ist die Delegitimierung von Machtverhältnissen, die als oppressiv erfahren werden.“[14] Durch das Aufgreifen des durch die Machthaber Ausgeschlossenen delegitimiert das Zitat den Machtanspruch, indem es die offizielle Geschichte in Frage stellt.

Hierfür ist das Speichergedächtnis essentiell. „Was es zu leisten vermag, wird dort am deutlichsten, wo es in toto kontrolliert oder abgeschafft ist, wie in totalitären Gesellschaften.“[15] Das System muss also Zugang zum Speichergedächtnis gewähren.[16]

In Systemen, welche den Zugang zum Speichergedächtnis „zugunsten des Funktionsgedächtnisses“[17] reglementieren, versperren oder dieses sogar „eliminieren“[18], ist eine aufgeklärte Wahl basierend auf relevanten Informationen nicht mehr möglich. „Die Möglichkeit zur permanenten Erneuerung setzt eine hohe Durchlässigkeit der Grenze zwischen Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis voraus. Wird die Grenze offengehalten, kann es leichter zu einem Austausch der Elemente und einer Umstrukturierung der Sinnmuster kommen. Im entgegengesetzten Falle droht eine Gedächtniserstarrung.“[19]

Die Demokratie lebt also davon, dass der Bevölkerung Informationen unter Wahrung der Aspekte der Relevanz und Folgen für Leben anderer zu Verfügung gestellt werden, damit diese bei der Wahl nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden kann. Bei Verhandlungen zu Handelsabkommen beispielsweise ist der Aspekt der Relevanz gegeben und irgendjemandes Leben ist von der Veröffentlichung nicht bedroht.

Der Geheimnisverrat ist kein Verrat am Geheimnis, sondern ein Verrat des Geheimnisses. Verraten wird hierbei das Volk.

[1] Michael Jäger: Ungenutzte Pressefreiheit. https://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/ungenutzte-pressefreiheit. Zuletzt aufgerufen am 25.8.2015

[2] Georg Mascolo: Was wir dürfen, was wir müssen. http://www.sueddeutsche.de/medien/zukunft-von-medien-und-politik-was-wir-duerfen-was-wir-muessen-1.2616092. Zuletzt aufgerufen am 25.8.2015

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] Ebd.

[6] Jäger, Ungenutzte Pressefreiheit

[7] Vgl. Mascolo, Was wir dürfen

[8] Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. Vierte, durchgesehene Auflage. München: C.H. Beck, 2009. S. 140

[9] Assmann, Erinnerungsräume, S. 141

[10] Ebd., S. 138

[11] Ebd., S. 140

[12] Ebd., S. 138

[13] Vgl. ebd., S. 138

[14] Ebd., S. 139

[15] Ebd., S. 140

[16] Vgl. ebd., S. 140

[17] Ebd., S. 344

[18] Ebd., S. 344

[19] Ebd., S. 140

Menschwerdung im Alter

Nicht mehr länger werden ältere Menschen stärker von Krankheiten geplagt, die ihnen das Leben erschweren und sogar Lebensqualität nehmen. Es ist nicht länger so, dass die Krankheiten mit dem Alter einhergehen. Das Alter ist längst selber zur Krankheit geworden. Wir sind krank – kollektiv und chronisch.

Glücklicherweise scheinen wenigstens Männer dieser Krankheit etwas entgegenhalten zu können. Kathrin Zinkant verfasste für die Süddeutsche Zeitung einen Bericht, in dem sie darstellt, dass es Männern im Alter am Sexualhormon Testosteron mangelt, wobei „die Menge des Hormons bei allen alternden Männern auf natürliche Weise“ sinke (Zinkant, „Was die Testosteron-Therapie anrichten kann“, SZ, 13.08.2015) und dass es Entwicklungen in den USA und Deutschland gebe, diesem Mangel durch die Zufuhr dieses Hormons entgegenzuwirken. Diese Testosteronzufuhr erfolgt, obwohl, wie Zinkant schildert, nur bei „drei bis fünf Prozent […] der Verlust für Symptome wie Müdigkeit und Männlichkeitsverlust“ zu verantworten ist und man so auf die Idee kommen könnte, dass ein erhöhter Testosteronwert diese Symptome beseitigen könne.

Zinkant nennt eine Studie, die die Auswirkungen einer Zugabe von Testosteron auf Männer ab 60 untersucht. Deren Ergebnis sei unter anderem, „dass sich auch die Lust- und Potenzprobleme der Männer durch das Testosteron nicht verringern ließen“ und Testosteron auch keine Lösung für „altersbedingte Probleme mit dem Samenerguss“ böte.

Die Darstellung alleine demaskiert ein Denken, das gefühlt in der Gesellschaft en vogue ist und versucht dem natürlichen Absinken des Testosterons als Ursache der Probleme den Rang abzulaufen.

Die Prämissen sind allseits bekannt und akzeptiert: Erstens lassen sich sexuelle Handlungen auch ohne Fortpflanzungsintention vollziehen. Zweitens ist ein wichtiger Aspekt des Bildes der Männlichkeit die Potenz. Das Bestreben, der Potenz auch im Alter nachzuhelfen, drängt der Omnipotenz eine neue Bedeutung auf. Auch im Alter hat der Körper des Mannes störungsfrei zu funktionieren. Es darf also keine „Probleme“ bei Lust, Potenz oder Samenerguss geben, wie Zinkant dies audrückt. Anders formuliert: Selbst im Alter hat der Mann zu wollen und zu können. Und die dritte Prämisse lässt sich so verstehen, dass die Jugend dem Alter überlegen ist.

Vor allem das dargestellte Bild der Männlichkeit ist omnipräsent. „Männer […] werden als Kind schon auf Mann geeicht“[1], so dass dieses Bild jedem Knaben eingeprügelt wird mit dem Resultat: „Ein Mann fühlt sich erst dann als Mann, wenn er es dir besorgen kann.“[2]

Das führt dazu, dass ein Mann, der im Alter nicht die geforderte Potenz aufweist, dem Bild der Männlichkeit nicht entspricht. Substitutionen zur Verbesserung des Testosteronspiegels als erhoffte Potenzsteigerung sind die Folge.

Heutzutage werden wir so alt, dass wir das fortpflanzungsrelevante Alter weit überschreiten können. Unsere Natur versucht uns das zu vermitteln, indem Fortpflanzung im Alter erschwert wird oder die Wahrscheinlichkeit eines gesunden Kindes als Folge der Fortpflanzung sinkt. Was unsere Natur uns zu sagen versucht, ist nichts anderes als: Lass es sein!

Nun haben wir es aber geschafft, Sex nicht in jedem Fall als Fortpflanzungsakt zu sehen, sondern auch als Hobby, Spaß und – der entscheidende Aspekt – als Maßstab für Männlichkeit. Die Folgen unseres Alters kollidieren also immens mit unseren Vorstellungen eines Mannes. Aufgrund lebenslanger Indoktrination dieses Ideals kommen wir zu dem Schluss, dass das Alter nichts Natürliches ist und blenden aus, dass es vielleicht sogar biologisch und evolutionär seine Bedeutung haben könnte. Stattdessen ist das Alter eine Krankheit, die wir besiegen müssen, damit wir weiter Männer sein können. Statt zu überlegen, was einen Mann außer einer pulsierenden Erektion ausmachen könnte, überlegen wir lieber, wie wir diese Erektion auf Jahrzehnte am Pulsieren halten.

Die logische Konsequenz unseres Alters ist es nicht unsere Vorstellungen von Männlichkeit zu überarbeiten, so dass sie auch ältere, potenzschwächere Männer integriert, beziehungsweise Konzepte von Geschlechtsspezifika einfach abzuschaffen. Wenn wir einem Bild aufgrund unserer Natur nicht entsprechen, ist nicht das Bild falsch, sondern wir sind die Kranken.

Wenn das Selbstverständnis des Mannes vom Bild der Männlichkeit, das in der Gesellschaft vorherrschend ist, beeinflusst wird und für dieses Bild der Maßstab der Potenz essentiell ist, bekommen wir als immer älter werdende Gesellschaft ein Problem, das nichts mit Potenz- oder Samenergussproblemen zu tun hat. Ein Großteil der Gesellschaft befindet sich dann in einem permanenten Widerstreit mit dem tatsächlichen Selbst und den hieran gestellten Ansprüchen. Ebenso ist es fatal in einer immer älter werdenden Gesellschaft das Alter als Krankheit zu verstehen. Aber vielleicht brauchen wir auch einfach nur neue Begriffe für ältere, also kranke Menschen männlichen Geschlechts mit Erektionsstörung.

Zinkant jedenfalls stellt zwar dar, dass die Testosteronzufuhr für die von ihr aufgelisteten Probleme keine Lösung bietet. Sie kann aber auch keine Lösung finden, weil sie zu dem tatsächlichen Problem nicht durchdringt. Ihr Fazit: „Die Angst davor, nicht nur alt zu werden, sondern sich auch alt zu fühlen, bleibt. Und tatsächlich wäre es zu schön, wenn ein Pflaster dagegen helfen würde.“

Pflaster verdecken aber Wunden nur. Tatsächlich wäre es schön, wenn wir uns mit den Wunden selber und nicht mit ihrer Kaschierung beschäftigen würden.

Vielleicht gibt es ja die Möglichkeit auch ohne Ständer ein Mann zu sein. Und vielleicht ist das Alter ja doch keine Krankheit, sondern gehört mit all seinen Wehwehchen zu einer medizinisch hochentwickelten Gesellschaft einfach dazu.

Und vielleicht, aber nur vielleicht, kann es ja zur Abwechslung im Alter auch einfach mal angenehm sein, dass man/Mann nach all den Jahren, in denen man im Job ständig 120 Prozent gegeben hat, nicht mehr funktionieren muss. Man darf endlich kaputt sein – das ist der Vorteil des Alters. Man kann das maschinelle Funktionieren hinter sich lassen und einfach Mensch sein. Schade nur, dass man gerade in einem Bereich kaputt ist, der doch so viel Spaß machen kann. Aber vielleicht hat man all die Zeit auch einfach nur die Prioritäten des Funktionierens falsch gesetzt.

[1] Herbert Grönemeyer: Männer

[2] Die Ärzte: Ein Schwein namens Männer